1.1 Humanökologischer Zugang
Hinweis
Die Kapitel enthalten Kommentare und Exkurse sowie Übungsaufgaben und Fragen zur Prüfungsvorbereitung.
- Mithilfe der Kommentare erläutern wir Ihnen die Fachinhalte und beziehen diese auf die Schulpraxis.
- Die Exkurse bieten wir Ihnen als optionale Vertiefung an.
- Die Übungsaufgaben bestehen aus unterschiedlichen Formaten: z. B. Single-Choice-Fragen, Zuordnungsaufgaben, Fallbeispiele, etc. Mit den Übungsaufgaben fokussieren wir auf zentrale Inhalte, um diese besser erarbeiten zu können.
- Die Fragen zur Prüfungsvorbereitungen helfen Ihnen, um die zentralen Inhalte für die Prüfung vorzubereiten.
Die Entwicklungswissenschaft bzw. die Entwicklungspsychologie beschäftigt sich mit der Frage nach der Entwicklung des Menschen und nach den Einflüssen, die dafür verantwortlich sind. Grundsätzliche Fragen beziehen sich bspw. darauf, welche Rollen spielen evolutionäre, genetische Faktoren einerseits und die Umwelterfahrungen, die Erfahrungen durch das Aufwachsen in sozialen Gruppen andererseits? Früher (und z.T. auch heute noch) wurde diese Diskussion als Natur vs. Nurture-Debatte (Natur oder Erziehung) geführt, d.h. was beeinflusst die menschliche Entwicklung eher: die Natur oder die Umwelt bzw. die Sozialisation oder Erziehung durch andere. Inzwischen gilt als belegt, dass individuelle Entwicklungsprozesse durch das Zusammenspiel von umweltbezogenen, biologischen, neurobiologischen und sozialen Faktoren beeinflusst werden und auch die Forschung zu diesen Prozessen hat in den letzten Jahren enorm zugenommen (siehe z.B. Freese 2008; D´Onofrio & Lahey 2010; McDade (2018). Trotzdem stellen sich einige grundlegende Fragen, die gerade auch für die Entwicklung von Kindern von großer Bedeutung sind (Lightfoot et al 2018, S. 11ff.):
Grundfragen der Entwicklungswissenschaft:
- Wie formbar ist der Mensch sowohl in Bezug auf gezielte Interventionen (pädagogisches Handeln!) als auch im Hinblick auf sonstige Bedingungen des Aufwachsens?
- Ist die Entwicklung des Menschen ein gradueller, kontinuierlicher Prozess oder gibt es kritische Phasen, Situationen, Übergänge, die mit starken Veränderungen im Lebenslauf einhergehen?
- Was führt dazu, dass Individuen sich mehr oder weniger unterschiedlich entwickeln?
Wir werden diese Fragen im Laufe des Moduls nicht abschließend beantworten können, aber wir werden immer wieder darauf zurückkommen, wenn es darum geht, zu untersuchen, welche Einflüsse Sozialisation, Erziehung und pädagogisches Handeln in den jeweiligen Kontexten hat.
Als konzeptioneller Rahmen für dieses Modul dient der humanökologische Zugang von Urie Bronfenbrenner (2005), der bereits oben für die Erfassung und die Analyse des kindlichen Wohlbefindens angesprochen wurde. Fokus der Arbeiten von Urie Bronfenbrenner war die Erklärung der menschlichen Entwicklung. Lag in seiner frühen Entwicklungsphase der Schwerpunkt auf einer systemischen Betrachtung von Einflussfaktoren; d.h. die Analyse unterschiedlicher Entwicklungskontexte, welche die menschliche Entwicklung beeinflussen (Mikro-, Meso-, Exo- und Makrosysteme sind hierbei zentrale Begriffe) verschob sich der Blick stärker auf Prozesse und zugrundeliegende Mechanismen, die die menschliche Entwicklung erklären sollen. Hierbei spielen die sogenannten proximalen Prozesse eine wichtige Rolle. Obwohl er bereits in früheren Publikationen von Prozessen gesprochen hat, waren es erst die Arbeiten ab den 1990er Jahren, in denen der Begriff der proximalen Prozesse als zentraler Mechanismus im Entwicklungskontext betont wurde (vgl. Tudge et al. 2016, Tudge et al. 2003). In dieser Zeit wurde schließlich das Process-Person-Context-Time-Model (PPCT-Modell) entwickelt, das die heutigen zentralen Charakteristika aufweist (Bronfenbrenner 2005; Bronfenbrenner & Morris 2006; siehe Grafik 1).
Grundlegend im humanökologischen Modell sind diese proximalen Prozesse, die sich verkürzt als regelmäßig stattfindende, an Komplexität zunehmende Interaktionen (Wechselwirkungen) definieren lassen, die einen substantiellen Einfluss auf die Entwicklung von Kindern haben (Bronfenbrenner & Morris 1998, S. 996). Diese Prozesse finden vor allem in den Mikrokontexten (z.B. Familie und Schule) statt. In welcher Weise proximale Prozesse wirken, hängt von den Charakteristika der sich entwickelnden Person, von den umgebenden Kontexten, vom im Fokus stehenden Outcome der Kinder und von der individuellen und historischen Zeit ab. Erst wenn all diese Elemente einbezogen werden, dann lässt sich davon sprechen, dass das PPCT vollständig umgesetzt wurde (Tudge et al. 2016). Auf die theoretische Erweiterung, dass proximale Prozesse nicht nur positiv, sondern auch in negativer Hinsicht zu beachten sind, gehen wir hier nicht ein (siehe Mercon-Vargas et al. 2020). Wichtig ist zu betonen, dass für das jeweilige Forschungsinteresse die relevanten Elemente (Prozesse, Personen, Kontexte, Zeit) theoretisch aufeinander bezogen und empirisch überprüft werden müssen. Das macht die Theorie eher zu einem heuristischen Zugang mit vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten und weniger zu einer in sich geschlossenen Theorie (Smith & Hamon 2022). Sie hilft uns aber, zu verdeutlichen, wie komplex Entwicklungen vor sich gehen und welche unterschiedlichen Einflüsse vorliegen könnten.
Zusätzlich zu den proximalen Prozessen sind diejenigen Einflussfaktoren bedeutsam, welche die konkrete Ausgestaltung von ebendiesen Prozessen in den jeweiligen Kontexten beeinflussen. Dazu zählen zunächst die Charakteristika der Person. Neben den biologischen und genetischen Einflüssen, die nicht ausführlich von Bronfenbrenner expliziert werden, sind es vor allem drei Aspekte, die seitens der fokussierten Person relevant sind: demand, resource und force:
Mit demand sind allgemeine, demographische Merkmale oder Stimuli der Person gemeint, die als Interaktionsanreize auf andere Personen wirken können, wie z.B. Geschlecht, Alter, Attraktivität, Migrationshintergrund, Kleidung usw., die unmittelbar von anderen wahrgenommen werden und zu anfänglichen Interaktionen oder – negativ gewendet – auch zu Ablehnungen und Diskriminierungen führen können.
Resources hingegen bezeichnen ein ganzes Bündel an Faktoren wie Merkmale, Fähigkeiten oder Eigenschaften, die in Interaktionsprozessen und damit in proximale Prozesse eingebracht werden können: z.B. mentale und emotionale Ressourcen, Erfahrungswissen, aber auch soziale und materielle Faktoren.
Teilweise schwer davon zu trennen sind Dispositionen der Persönlichkeit (Force), wie das Temperament, Regulationsstrategien, die Motivation, Ausdauer, Hartnäckigkeit, Flexibilität der Person. Sie bilden die Wirk- und Antriebskräfte und sind nicht immer trennscharf von Ressourcen zu trennen.
Das aktuelle Handeln vollzieht sich nunmehr in unterschiedlichen Kontexten, dem environment. Hierbei spielen zunächst einmal die Mikrosysteme oder Mikrokontexte eine entscheidende Rolle, weil damit jene Umgebungen angesprochen, in denen Individuen die meiste Zeit in Interaktionen und Handlungen (= proximale Prozesse) involviert sind, wie z.B. Familie, Schule und Peerbeziehungen. Sind Individuen an mehreren Mikrosystemen beteiligt, die miteinander interagieren oder aufeinander verweisen, wie z.B. Familie und Schule, dann handelt es sich um ein Mesosystem. Zusätzlich zu der Mesoebene wird von Bronfenbrenner die Ebene der Exosysteme eingeführt. Exosysteme sind Lebensbereiche, an denen die im Fokus stehende Person nicht direkt beteiligt ist, in denen aber Ereignisse oder Prozesse stattfinden bzw. in denen strukturelle Restriktionen oder Opportunitäten gebildet werden, die Auswirkungen auf den Handlungs- und Möglichkeitsraum von Individuen und damit auf proximale Prozesse in den Mikro- und Mesokontexten haben. Das Makrosystem definiert schließlich die umgebenden kulturellen, rechtlichen, sozialen sowie politischen Kulturen und Subkulturen, die sich u.U. auf alle zuvor genannten Systeme auswirken und diese durchdringen können. Dabei wird häufig auf den sozioökonomischen Status der Familie verwiesen, oder mit Blick auf Schulen auf die jeweiligen rechtlichen Regelungen (Tudge et al. 2003). Schließlich sei als letzter Baustein auf time verwiesen, das Chronosystem. Das Chronosystem beinhaltet zum einen die historische Zeit, d.h. es müssen die jeweilig vorherrschenden grundsätzlichen historischen Bedingungen mit einbezogen werden. So waren beispielsweise die Bedingungen in Familie und Schule in den 1950er Jahren grundsätzliche andere als heute. Das Chronosystem spricht die zeitlichen Bedingungen und Restriktionen von Handlungen, Institutionen und Kontexte bis hin zu individuellen Entwicklungsprozessen an.
Das humanökologische Modell dient uns dazu, die jeweiligen Themen, die hier im Rahmen des Moduls angesprochen werden zu verorten. Es dient dazu, zu erklären wie bestimmte Mechanismen zu welchen Ergebnissen führen und es dient dazu, zu verdeutlichen, dass die Entwicklungen von Schüler:innen viele Einflussdimensionen aufweisen, die alle miteinander zusammenhängen. Die Kontexte Schule oder Familie mit Blick auf die Entwicklung von Individuen alleine zu betrachten, ist daher nicht ausreichend, weil das Bild unvollständig bleibt und wichtige Faktoren ausgeblendet werden. Es gibt sehr viele Videos im Internet, um das humanökologische Modell zu beschreiben.
Zur Vertiefung
Wiederholungsfragen
Hinweis
Das Kapitel „Grundbegriffe und theoretische Rahmung“ wird in Unterkapiteln vertieft. In der Navigationsleiste unten auf jeder Seite können Sie zum vorausgehenden und nachfolgenden Kapitel navigieren.