3.2 strukturtheoretischer Ansatz
Hinweis
Die Kapitel enthalten Kommentare und Exkurse sowie Übungsaufgaben und Fragen zur Prüfungsvorbereitung.
- Mithilfe der Kommentare erläutern wir Ihnen die Fachinhalte und beziehen diese auf die Schulpraxis.
- Die Exkurse bieten wir Ihnen als optionale Vertiefung an.
- Die Übungsaufgaben bestehen aus unterschiedlichen Formaten: z. B. Single-Choice-Fragen, Zuordnungsaufgaben, Fallbeispiele, etc. Mit den Übungsaufgaben fokussieren wir auf zentrale Inhalte, um diese besser erarbeiten zu können.
- Die Fragen zur Prüfungsvorbereitungen helfen Ihnen, um die zentralen Inhalte für die Prüfung vorzubereiten.
Strukturtheoretischer Ansatz nach Helsper
Nach dem strukturtheoretischen Ansatz müssen Lehrer*innen insbesondere lernen, reflexiv mit grundlegenden Spannungen und Widersprüchen sogenannten Antinomien umzugehen, um ihr pädagogisches Handeln zu professionalisieren. Es wird eine reflexiv-kritische Auseinandersetzung mit der Schulpraxis eingeübt. Die Fachinhalte, Fachdidaktiken und weitere professionelle Kompetenzen dienen der Einordnung der Praxiserfahrungen. Für pädagogisches Handeln reicht das vorhandene Alltagswissen nicht aus. Insofern leistet die universitäre Ausbildung ihren Beitrag zur Herausbildung eines reflexiven, wissenschaftsbasierten Habitus, der sich durch die Auseinandersetzung mit der Schulpraxis ausformt.

Antinomien erster Ordnung beziehen sich auf grundsätzlich jede Lebenspraxis. Dazu zählen folgende grundlegende Spannungen und Widersprüche, von denen wir die hervorgehobenen vertiefen werden:
Praxisantinomie
Symmetrieantinomie
Begründungsantinomie
Subsumtionsantinomie
Ungewissheitsantinomie
Vertrauensantinomie
Antinomien zweiter Ordnung beziehen sich insbesondere auf das Spannungsfeld zwischen der Lebenspraxis und der gesellschaftlich-organisatorischen Rahmung. Dazu zählen folgende grundlegende Spannungen und Widersprüche, von denen wir die hervorgehobenen vertiefen werden:
Autonomieantinomie
Differenzierungsantinomie
Näheantinomie
Organisationsantinomie
Sachantinomie
Praxisantinomie
“Die Praxisantinomie beschreibt den Widerspruch, dass Unterricht stets Entscheidungszwängen unterliegt, die eigentlich theoretisch reflektiert, zumindest aber überdacht werden sollten, denen in der Praxis jedoch stets situativ und somit unter Handlungs- und Zeitdruck begegnet werden muss.” (Ukley 2021)
Die Praxisantinomie beschreibt den Sachverhalt, dass pädagogisches Handeln durch das Zusammenspiel von Theorie und Praxis entsteht. Pädagogisches Handeln ist Handeln in der Schulpraxis. Es unterscheidet sich vom Alltagshandeln durch die theoretische Fundierung. Die Antinomie entsteht dadurch, dass die Theorie nicht einfach linear in die Praxis umgesetzt werden kann, z. B. benötigt die theoretische Reflexion der Unterrichtspraxis Zeit, die im Schulalltag zu oft fehlt. Außerdem beschreibt die Praxisantinomie die Spannung, dass in der Schulpraxis Entscheidungen für das pädagogische Handeln unter Handlungsdruck stattfindet.
Symmetrieantionmie
“Im Lehrerhandeln und im System Schule gibt es spezielle Formen der ‚Asymmetrie‘. Im sozialen Miteinander ist es deshalb professionell, dass Lehrende ihren Vorsprung nicht ‚ausspielen‘”. (Hanstein 2022)
•Dem pädagogischen Handeln liegen vielfältige Asymmetrien zugrunde.
⚬z. B. Wissens- und Fähigkeitsungleichheit
⚬z. B. Sanktionsmacht (Machtasymmetrien)
Pädagogisches Handeln ist ein Handeln auf Augenhöhe mit den Schüler*innen. Um die verschiedenen Asymmetrien für das Lehrer:innen-Handeln auszubalancieren zu können, erfordert es Professionswissen und schulpraktische Erfahrung. Besonders zentral sind der Umgang mit Machtasymmetrien durch die Lehrkräfte, da sie das Risiko von Machtmissbrauch in sich bergen.
Autonomieantinomie (Heteronomie versus Autonomie)
“Autonomie, zunächst gedacht als die Selbstbestimmung und Unabhängigkeit von Individuen oder Gruppen, und Heteronomie, in diesem Fall als Fremdbestimmung durch Andere oder Institutionen verstanden”. (Katenbrink 2014)
Die Bedeutung von Autonomie als ein grundlegendes Bedürfnis von Lernenden, das ihre Motivationslage mitbestimmt, findet sich im strukturtheoretischen Ansatz als eine der grundlegenden Spannungen in der Schulpraxis wieder. Zu Beginn der Schulzeit sind die Schüler*innen noch stärker auf eine Außenanleitung angewiesen: z. B. ist es zentral für ihre weiteren Bildungswege, dass sie Lerntechniken für das schulische Lernen einüben können. Aufgrund der Rahmenbedingungen in der Schule besteht die Gefahr, dass die Anleitung überhand nimmt, z. B. in Form von Vorgaben seitens der Lehrkraft, die für den Lernprozess der Schüler*innen nicht notwendig sind, aber den organisatorischen Ablauf vereinfachen. In diesem Beispiel würde der Autonomieentwicklung der Schüler*innen in der Schule eher weniger Raum gegeben als es z. B. durch die Kinderrechte gefordert ist. Ein weiterer Widerspruch, der unter der Autonomieantinomie gefasst wird, besteht in dem im Bildungsauftrag (NSchG §2) festgehaltenen Anspruch, dass die Schüler*innen zunehmend Autonomie erlangen sollen, während das System Schule eine Pflichtinstitution ist, die die Schüler:innen aufgrund der Schulpflicht besuchen müssen.
Differenzierungsantinomie
“Der pädagogische Anspruch, allen Schüler*innen gerecht zu werden, findet seine Grenzen darin, dass Schule als Lernorganisation zur Homogenisierung tendiert.” (Hanstein 2022) Dieser Anspruch wird in Niedersachsen im Orientierungsrahmen Schulqualität abgebildet, der auf „Regelungen aus Gesetzen, Verordnungen und Erlassen [basiert und ] den vorhandenen verbindlichen Rahmen von Schule“ aufzeigt. Dort heißt es:
„Der Lernerfolg jeder bzw. jedes Einzelnen ist innerhalb einer heterogenen Gruppe davon abhängig, inwieweit sie bzw. er im Rahmen eines methodisch vielfältigen und individuell unterstützenden Unterrichts die Lernchancen nutzen und Fortschritte machen kann. Voraussetzung für das Angebot differenzierender Lernzugänge sind die Kenntnis der Ausgangslagen und der Lernstände der Einzelnen sowie die Anbindung an die individuelle Lernbiographie. Individuelle Förderung ist somit Grundprinzip pädagogischen Handelns, Ausgangspunkt und zentrale Aufgabe von Unterricht und Erziehung. Jede Schülerin und jeder Schüler hat Anspruch auf die Anerkennung des individuellen Lernfortschritts.“
Die in der Schulpraxis zum Teil unter den Schüler*innen und Eltern, bisweilen auch unter den Lehrkräften noch bestehende Vorstellung, dass es gerecht sei, alle Schüler*innen gleich zu behandeln, wird dem oben beschriebenen Qualitätsmerkmal von Unterricht nicht gerecht. Stattdessen liegt die Herausforderung für das pädagogische Handeln in der Differenzierungsantinomie darin, die heterogenen Lernvoraussetzungen der Schüler*innen für ihren Lernprozess zu berücksichtigen. Dies kann bedeuten, dass Schüler*innen unterschiedlich behandelt werden, um ihnen gleiche Bildungschancen zu eröffnen. Ein Beispiel aus der Schulpraxis, das diesem Prinzip der Differenzierung folgt, ist der sogenannte Nachteilsausgleich. „Folgt man diesem Gedanken, so zeigt sich, dass das Verhältnis von Differenz und Gleichheit in Bezug auf das professionelle Handeln von Lehrpersonen im (inklusiven) Unterricht keineswegs den Charakter einer unauflösbaren Antinomie hat,” sondern “lernbar ist.” (Seitz 2020)
In der universitären Lehre dienen
- der kompetenztheoretische Ansatz und
- der strukturtheoretische Ansatz
zur Entwicklung einer spezifischen Lehrer:innen-Professionalität. Beide Ansätze können jeweils nur einen Teil der Herausforderungen des pädagogischen Handelns erfassen, denn
- die professionellen Kompetenzen reichen nicht aus, um die Ungewissheit pädagogischen Handelns aufzulösen.
- die strukturtheoretische Betrachtung berücksichtigt den Einfluss des professionellen Kompetenzerwerbs auf das pädagogische Handeln nicht hinreichend, stärkt aber die Herausbildung eines (selbst-)reflexiven Umgangs mit der Ungewissheit pädagogischen Handelns.
Fragen zur Prüfungsvorbereitung
- Nennen Sie Auszüge aus dem Bildungsauftrag, an denen erkennbar ist, dass Demokratielernen in §2 des NSchG verankert ist.
- Beschreiben Sie zwei Zugänge, wie Sie als Lehrkraft Gesprächsanlässe oder Gesprächsräume gestalten können.
- Begründen Sie, warum die unsicher-desorganisierte Bindung von Kindern für Sie als Lehrkraft eine besondere Herausforderung mit sich bringt.
- Erläutern Sie, inwiefern die Bindungserfahrungen von Lehrkräften und Schüler*innen für die Beziehungsarbeit relevant ist.
- Inwiefern begünstige eine unsichere Bindung von Kindern den Effekt von Bildungsungerechtigkeiten im Schulsystem?
- Benennen Sie, warum es notwendig ist, z. B. in Form der Reckaner Reflexionen, zu begründen, welches Handeln von Lehrkräften ethisch nicht zulässig ist.
- Beschreiben Sie, wie Lehrkräfte nach den Reckaner Reflexionen Leistungsrückmeldungen gestalten sollen.
- Beschreiben Sie, wie Lehrkräfte nach der KMK Leistungen beurteilen sollen.
- Inwiefern entsprechen die rechtebasierte Gestaltung von Lehrer*innen-Schüler*innen-Beziehungen in Form der Reckaner Reflexionen den Beschreibungen von Schüler*innen ihrer Lieblingslehrkäfte.
- Definieren Sie “Kompetenzen” nach Weinert.
- Benennen Sie die 4 Kompetenzbereiche der Bildungswissenschaften.
- Benennen Sie je eine beschriebene Kompetenz aus den 4 Kompetenzbereichen.
- Erläutern Sie die Spannungen und Widersprüche, die den 4 Antinomien, die in der Vorlesung vertieft behandelt werden, zugrunde liegen.
- Beschreiben Sie den Habitus, der nach dem strukturtheoretischen Ansatz entwickelt werden muss, um pädagogisches Handeln zu professionalisieren.
Literatur
Hanstein, Thomas (2022). Antinomien in digitalisierten Lernarrangements. Lehren und Lernen mit (und in) Widersprüchlichkeiten. merz | medien + erziehung. 1-8.
Katenbrink, Nora (2014). Autonomie und Heteronomie. Peers und Schule. Das Beispiel eines reformpädagogischen Internats. Berlin: Budrich.
Seitz, S. (2020). Dimensionen inklusiver Didaktik – Personalität, Sozialität und Komplexität. Zeitschrift für Inklusion, 2.
Ukley, N. (2021). Anforderungen und Antinomien des Lehrer*innenberufs: Forschendes Lernen als Instrument der professionellen Begegnung im Rahmen der (Sport-)Lehrkräftebildung. DiMawe – Die Materialwerkstatt, 3(4), 32–39.
Wernet, A. (2000). „Wann geben Sie uns die Klassenarbeiten wieder?“ Zur
Bedeutung der Fallrekonstruktion für die Lehrerausbildung. In Kraimer, K. (Hrsg.),
Die Fallrekonstruktion. Sinnverstehen in der sozialwissenschaftlichen Forschung (S.
275-300). Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Verzeichnis der Internetquellen
Bildungsportal Niedersachsen (2013). Schriftliche Arbeiten an allgemein bildenden Schulen. https://bildungsportal-niedersachsen.de/inklusive-schule/rechtliche-vorgaben/erlasse-und-curriculare-vorgaben/schriftliche-arbeiten-an-allgemein-bildenden-schulen
Erlass: Schriftliche Arbeiten in den allgemeinbildenden Schulen (Niedersachsen). https://bildungsportal-niedersachsen.de/inklusive-schule/rechtliche-vorgaben/erlasse-und-curriculare-vorgaben/schriftliche-arbeiten-an-allgemein-bildenden-schulen
Niedersächsisches Vorschrifteninformationssystem (NI-VORIS) (o. J.). § 2 NSchG – Bildungsauftrag der Schule. https://voris.wolterskluwer-online.de/browse/document/f64f333a-a845-37da-b0e4-6c2666eaaf0f
Wernet, Andreas (o. J.) Wann geben Sie uns die Klassenarbeiten wieder? In: Online Fallarchiv Schulpädagogik: Universität Kassel. https://fallarchiv.uni-kassel.de/2011/publizierte-faelle/andreas-wernet/wann-geben-sie-uns-die-klassenarbeiten-wieder/
Kommentar
Wenden Sie nun Ihre Kenntnisse zu Antinomien auf das folgende Fallbeispiel an:
„Schüler: Wann geben Sie uns die Klassenarbeit wieder?
Lehrer: Nächste Woche.
Schüler: Oh, Sie haben sie doch schon drei Wochen.
Lehrer: Und wenn ich sie fünf Wochen hätte?
Schüler: Meine Mutter denkt schon, ich hab‘ die weggeschmissen.“
(Wernet o. J.)
Erlass: Schriftliche Arbeiten in den allgemein bildenden Schulen (Niedersachsen)
“Die Korrekturzeiten sollen im Primarbereich eine Woche, im Sekundarbereich I zwei Wochen und im Sekundarbereich II drei Wochen nicht überschreiten. Die Erziehungsberechtigten müssen Gelegenheit erhalten, in die korrigierte Arbeit Einblick zu nehmen. Bei der Korrektur oder bei der Rückgabe der korrigierten Arbeit ist von der Fachlehrkraft die richtige Lösung der gestellten Aufgabe darzustellen oder mit der Klasse zu erarbeiten. Ob von den Schülerinnen und Schülern eine schriftliche Berichtigung anzufertigen ist, entscheidet die Fachlehrkraft.”