2.3 Drittes Allgemeines Prinzip: Recht auf Leben

Hinweis

In diesem Kapitel wird das Recht auf Schutz vor Gewalt thematisiert, das auch den Schutz vor sexualisierter Gewalt umfasst.


Die Kapitel enthalten Kommentare und Exkurse sowie Übungsaufgaben und Fragen zur Prüfungsvorbereitung.

  • Mithilfe der Kommentare erläutern wir Ihnen die Fachinhalte und beziehen diese auf die Schulpraxis.
  • Die Exkurse bieten wir Ihnen als optionale Vertiefung an.
  • Die Übungsaufgaben bestehen aus unterschiedlichen Formaten: z. B. Single-Choice-Fragen, Zuordnungsaufgaben, Fallbeispiele, etc. Mit den Übungsaufgaben fokussieren wir auf zentrale Inhalte, um diese besser erarbeiten zu können.
  • Die Fragen zur Prüfungsvorbereitungen helfen Ihnen, um die zentralen Inhalte für die Prüfung vorzubereiten.

Artikel 6 der UN-KRK: Recht auf Leben

„(1) Die Vertragsstaaten erkennen an, dass jedes Kind ein angeborenes Recht auf Leben hat.

(2) Die Vertragsstaaten gewährleisten in größtmöglichem Umfang das Überleben und die Entwicklung des Kindes.“ (Deutsches Kinderhilfswerk e. V. o. J.)

Dieses dritte Prinzip „Recht auf Leben“ der UN-KRK in Artikel 6 der UN-KRK knüpft an das zweite Prinzip „Vorrang des Kindeswohls“ an, da es ebenfalls auf die Entwicklung des Kindes Bezug nimmt. Hier bezieht sich die UN-KRK jedoch auf das grundlegende Recht auf Leben, das in Deutschland im Grundgesetz Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 festgeschrieben ist:

Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.

Aus der UN-KRK wird oft das Recht auf Schutz vor Gewalt hervorgehoben, das insbesondere in den folgenden 3 Artikeln der UN-KRK verankert ist: 19, 32 und 34 (vgl. Deutsches Kinderhilfswerk e. V. o. J.)

Artikel 19: Schutz vor Gewaltanwendung, Misshandlung, Verwahrlosung

Artikel 32: Schutz vor wirtschaftlicher Ausbeutung

Artikel 34: Schutz vor sexuellem Missbrauch

Kommentar

Um diesen gesetzlichen Rahmen zum Schutz vor Gewalt, der sich aus dem Recht auf Leben herleitet, für Ihr Lehrer:innen-Handeln zu erläutern, gehen wir in diesem Kapitel auf die rechtlichen Regelungen zur Kindeswohlgefährdung ein, die Sie als Lehrkräfte betreffen, und beleuchten abschließend das Kinderrecht auf Schutz vor Gewalt in seiner historischen Entwicklung in Deutschland. Zunächst können Sie sich fünf Beispiele aus der Rechtspraxis (Advocard 2022), die eine Kindeswohlgefährdung darstellen, in der Audiodatei erläutern lassen.

Vernachlässigung des Kindes
Vernachlässigung weiterer elterlicher Pflichten
Körperliche Gewalt
Psychische oder seelische Misshandlung
Sexueller Missbrauch

In der Schulpraxis können Sie als Lehrkräfte Anzeichen von Kindeswohlgefährdungen beobachten, Verdachtsmomente erleben oder eindeutige Kindeswohlgefährdungen feststellen. Aufgrund Ihrer Schweigepflichten gelten Sie als Geheimnisträger:innen und somit kommt Ihnen eine verantwortungsvolle Pflicht im Rahmen ihrer Tätigkeit zu, die im Bundeskinderschutzgesetz geregelt ist. Bevor wir die gesetzlichen Regelungen vorstellen, schauen Sie sich zunächst die Statistik zu den steigenden Fallzahlen von Kindeswohlgefährdungen in Deutschland an. Daran können Sie die Relevanz des Schutzes vor Kindeswohlgefährdungen für Ihre Profession erkennen:

“Höchststand bei Kindeswohlgefährdung

Vernachlässigung, sexuelle, psychische oder körperliche Gewalt:

Im vergangenen Jahr haben die Jugendämter in Deutschland mehr als 62.000 solcher Fälle von Kindeswohlgefährdung festgestellt. Zudem gibt es mehr Bedarf an erzieherischer Hilfe.“ (Norddeutscher Rundfunk 2023)

Latente Kindeswohlgefährdung = ernstzunehmende Hinweise, ohne Bestätigung

(Statistisches Bundesamt 2024)

Im Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG) wird im Artikel 1, dem sogenannten Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) geregelt, wie relevante Akteur:innen, darunter Lehrkräfte als Geheimnisträger:innen, auf Kindeswohlgefährdungen reagieren müssen:

Im § 4, Beratung und Übermittlung von Informationen durch Geheimnisträger bei Kindeswohlgefährdungen werden die Pflichten und Rechte festgelegt:

„(1) Werden […] Lehrerinnen oder Lehrern an öffentlichen und an staatlich anerkannten privaten Schulen

in Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder eines Jugendlichen bekannt, …” (Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen o. J.)

  • dann haben sie “Anspruch auf Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft.” (ebd.)
  • Lehrkräfte sollen grundsätzlich die Situation mit dem Kind und den Erziehungsberechtigten erörtern und auf Hilfen hinwirken, aber nur unter der Bedingung, dass “hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird” (ebd.).
  • “Scheidet eine Abwendung der Gefährdung […] aus”(ebd.), dann sind die Lehrkräfte befugt das Jugendamt zu informieren.
  • Sie sind hingegen verpflichtet “unverzüglich das Jugendamt [zu] informieren […], wenn […| eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen das Tätigwerden des Jugendamtes erfordert.“ (ebd.)

Kommentar

Als Lehrkräfte haben Sie somit den Anspruch auf Beratung durch eine „insoweit erfahrene Fachkraft“. Zwei niedersächsische Anlaufstellen finden Sie nachfolgend aufgelistet. Außerdem sollte in den Schulen das Vorgehen bei Kindeswohlgefährdung festgelegt sein, dazu gibt es entsprechende Leitfäden für die Schulorganisation. Fragen Sie daher nach, um handlungssicher zu sein, wenn Sie neu an einer Schule arbeiten, z. B. im Rahmen Ihrer Praktika:

https://www.hannover.de/Leben-in-der-Region-Hannover/Soziales/Kinder-Jugendliche/Kinder-und-Jugendschutz/Beratung-f%C3%BCr-Fachkr%C3%A4fte-zum-Schutz-von-Kindern-und-Jugendlichen

https://www.kinderschutz-noni.de/angebote.html

Um genauer zu verstehen, wie Sie Ihr Recht auf Beratung in der Schulpraxis wahrnehmen können, stellen wir Ihnen im Exkurs „Ihr Recht auf Beratung“ einen Podcast bereit:

Exkurs: Ihr Recht auf Beratung

Ihr Recht auf Beratung durch die „insoweit erfahrene Fachkraft“ wird im Podcast erklärt: Wissenschaft-meets-Praxis-Podcast für die Kinderschutz-Lehre aus dem Arbeitsbereich Pädagogik und Didaktik der Elementar- und Primarbildung von Professorin Anke Spies an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg:

Kommentar

Beachten Sie insbesondere, dass Sie laut KKG zwar grundsätzlich Kontakt mit dem Kind und den Erziehungsberechtigten aufnehmen sollen, aber die Bedingung unter der Sie dies tun dürfen, ist hervorzuheben: wenn “hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird”. Die folgende Grafik macht deutlich, dass die Mehrheit der Kindeswohlgefährdungen von den Eltern ausgeht.

Nicht immer ist hier eine direkte Kontaktaufnahme mit den Erziehungsberechtigten angeraten. Zum Beispiel in Fällen sexualisierter Gewalt, die in der Regel im sozialen Nahraum des Kindes stattfinden, ist hier Vorsicht geboten! Denn die Täter:innen oder Mitwissenden könnten erziehungsberechtigt sein.

Aktuelle Zahlen von UNICEF (Oktober 2024) zu Kindern und Jugendlichen, die weltweit von sexualisierte Gewalt betroffen sind, fasst der folgende 3-minütige Audiobeitrag von DLF Nova zusammen: https://share.deutschlandradio.de/dlf-audiothek-audio-teilen.html?audio_id=dira_DRW_1c2cdadc

Um im Umgang mit sexualisierter Gewalt, von der pro Klasse 1-2 Kinder aktuell betroffen sind oder bereits betroffen waren, als zukünftige Lehrkraft handlungssicherer zu werden, zeigen wir Ihnen im Exkurs ein interaktives Fortbildungsangebot: „Was ist los mit Jaron?“ (vgl. Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs o. J. )

Exkurs: „Was ist los mit Jaron?“

„Was ist los mit Jaron?“ wird vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend konkret von der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) bereitgestellt. Die UBSKM “ ist das Amt der Bundesregierung für die Anliegen von Betroffenen und deren Angehörige und für alle, die sich gegen sexuelle Gewalt engagieren.“ (ebd.) Sie können in dem Angebot zwischen der Variante für die Grundschule oder für die weiterführende Schule wählen und arbeiten mit verschiedenen Fallbeispielen.

Der Verabschiedung der UN-Kinderrechtskonvention im Jahr 1989 gehen Jahrzehnte und Jahrhunderte gesellschaftlicher Entwicklungen voraus. Gilt eine gewaltfreie Erziehung in deutschen Schulen heute als Grundsatz, so wurde dieses Recht für Kinder in den Schulen Ende der vierziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts in der DDR und erst 24 Jahre später in der Bundesrepublik gesetzlich verankert. Es sollten fast 3 Jahrzehnte vergehen, bevor auch eine gesetzliche Grundlage für die gewaltfreie Erziehung in der Familie geschaffen wurde. Normen und Werte sind veränderbar, wie die hier skizzierte Entwicklung zeigt, doch diese Veränderungen sind in der Regel lange Prozesse, deren lange Dauer im Rückblick oft schwer nachvollziehbar ist.
Neben (schul-)politischen, wissenschaftlichen, juristischen und sozialen Diskursen, spielen auch Kulturschaffende immer wieder eine Rolle in Veränderungsprozessen, indem sie zum Nachdenken anregen oder Symbole für die Kommunikation von Werten schaffen.
Die Friedenstaube von Pablo Picasso ist so ein Beispiel: Sie wurde für ein Plakat eines Weltfriedenskongress in Paris 1949 ausgewählt. Angelehnt an das biblische Motiv der Taube von der Arche Noah ist die Taube bis heute ein Symbol für Frieden.

Kommentar

Fällt Ihnen ein, wo Sie die Taube an der Uni Oldenburg schon gesehen haben?

Exkurs: Die Taube an der Uni

Als einen Einstieg in die Namensgebung der Uni können Sie hier einen ersten Einblick in die historische Diskussion um den Namen Carl von Ossietzky und die Taube am Turm nehmen:

https://uol.de/im-profil/namensgebung-chronologie

https://www.stachel.de/00.11/11frieden.html

Ein weiteres Beispiel ist die Rede „Niemals Gewalt!“ der schwedischen Kinderbuchautorin Astrid Lindgren, die sie 1978 als Dankesrede für den ihr verliehenen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels hielt: Schweden führte bereits 1979 als erstes europäisches Land das Recht auf gewaltfreie Erziehung in der Familie ein.

Die Weiterentwicklung von Werten und Normen lässt sich an der Entwicklung der Kinderrechte bis heute nachzeichnen, wie die folgenden 2 Beispiele verdeutlichen:
1) In Deutschland gibt es den aktuellen Diskurs zur Frage, ob und wie Kinderrechte ins Grundgesetz aufgenommen werden sollten. Gegenargumente sind, dass Kinderrechte schon mit den dort verankerten Menschenrechten abgedeckt seien und eine Aufnahme ins Grundgesetz möglicherweise die Rechte des Staates auf Einflussnahme in den Familien stärke, während die Elternrechte eingeschränkt würden. 2021 scheiterte eine Grundgesetzänderung an der fehlenden 2/3-Mehrheit im Bundestag und Bundesrat. Die Diskussion wird fortgeführt: „der Kinderrechteausschuss der Vereinten Nationen empfahl nach seiner bislang letzten Sitzung zur Situation der Kinderrechte in Deutschland im September 2022, die Bemühungen zu verstärken, Kinderrechte explizit ins Grundgesetz aufzunehmen.“ (Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg o. J.) Ziel ist es, dadurch den besonderen Schutz von Kindern zu sichern.

2) Ausgehend von der Klimakrise ist durch einen sogenannten Allgemeinen Kommentar das Kinderrecht auf eine saubere Umwelt 2023 in der UN-KRK verankert worden, nachdem die UN 2022 eine Resolution zu diesem Menschenrecht verabschiedet hatte (vgl. Kirchner 2023, vgl. Vereinte Nationen 2022).

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Verzeichnis der Internetquellen

ADVOCARD Rechtsschutzversicherung AG (2022). Kindeswohlgefährdung erkennen und richtig handeln. https://www.advocard.de/streitlotse/familie-und-vorsorge/kindeswohlgefaehrdung-erkennen-und-richtig-handeln/https://uol.de/im-profil/namensgebung-chronologie

Kirchner, Sandra (2023). Kinder haben das Recht auf saubere Umwelt. Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e. V. Berlin: https://dgvn.de/meldung/kinder-haben-das-recht-auf-saubere-umwelt

Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen (o. J.). Wer macht was? Das fachliche Netzwerk im Hilfeprozess. https://www.jugendschutz-niedersachsen.de/gemeinsam-gegen-sexuellen-missbrauch/wp-content/uploads/sites/10/2020/11/LJS_GGSM-Handlungsleitfaden-Das-fachliche-Netzwerk.pdf

Norddeutscher Rundfunk (2023) Tagesschau. Höchststand bei Kindeswohlgefährdung. https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/kindeswohl-gefaehrdung-100.html

Spies, Anke (2023). Wissenschaft-meets-Praxis-Podcast für die Kinderschutz-Lehre

Statistisches Bundesamt (2024). Anzahl der durch die Jugendämter festgestellten Kindeswohlgefährdungen in Deutschland von 2013 bis 2023. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1175170/umfrage/festgestellte-kindeswohlgefaehrdung-in-deutschland/

Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (o. J.). Digitaler Grundkurs zum Schutz von Schüler*innen vor sexuellem Missbrauch. https://www.was-ist-los-mit-jaron.de/

Vereinte Nationen (2022). The Human Right to a Clean, Healthy and Sustainable Environment. https://digitallibrary.un.org/record/3982508?ln=en&v=pdf

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