2.2 Zweites Allgemeines Prinzip: Vorrang des Kindeswohls

Hinweis

Die Kapitel enthalten Kommentare und Exkurse sowie Übungsaufgaben und Fragen zur Prüfungsvorbereitung.

  • Mithilfe der Kommentare erläutern wir Ihnen die Fachinhalte und beziehen diese auf die Schulpraxis.
  • Die Exkurse bieten wir Ihnen als optionale Vertiefung an.
  • Die Übungsaufgaben bestehen aus unterschiedlichen Formaten: z. B. Single-Choice-Fragen, Zuordnungsaufgaben, Fallbeispiele, etc. Mit den Übungsaufgaben fokussieren wir auf zentrale Inhalte, um diese besser erarbeiten zu können.
  • Die Fragen zur Prüfungsvorbereitungen helfen Ihnen, um die zentralen Inhalte für die Prüfung vorzubereiten.

Kommentar

Das Kindeswohl und das Wohlbefinden (child well-being) sind zentrale und zugleich nicht trennscharf definierte Begriffe, mit denen Sie sich im Rahmen Ihrer Professionalisierung zur Lehrkraft vertraut machen.  Der Vorrang des Kindeswohls als ein Allgemeines Prinzip der UN-KRK ist eine Grundlage Ihres Lehrer:innen-Handelns und umfasst stets Kinder sowie Jugendliche bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres.

Kindeswohl

 „Zu den Grundprinzipien der UN-KRK zählt die Einhaltung des ,Kindeswohls´ gemäß Art. 3 Abs. 1.

Danach ist ,bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorgan getroffen werden, (…) das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.

Dem UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes zufolge ist das Kindeswohl je nach den gesellschaftlichen Verhältnissen wandelbar. Weiter betont der Ausschuss, dass das Kindeswohl nur dann sachgerecht bestimmt werden könne, wenn das Kind als Person mit eigenen Positionen anerkannt und in Anlehnung an das Recht auf Mitsprache nach Art. 12 UN-KRK in Entscheidungen einbezogen werde.” (Deutscher Bundestag. Wissenschaftliche Dienste. 2020)

Kindeswohl und Wohlbefinden (well-being)

Während der Begriff des Kindeswohls insbesondere als juristischer Begriff fungiert, ist der Begriff des Wohlbefindens (child well-being) ein wissenschaftlicher Forschung zugrunde liegender Begriff, der je nach Disziplin verschiedene Facetten beleuchtet. Der Begriff Kindeswohl wird im Zusammenhang mit dem Schutz des Kindes z. B. vor Missbrauch und Gewalt verwendet und findet sich sprachlich daher in der sogenannten Kindeswohlgefährdung wieder. Der Begriff des Wohlbefindens nimmt eine stark subjektorientierte Perspektive, aus Sicht der Kinder ein, und ist zugleich auf die Gegenwart und die Zukunft ausgerichtet. Es geht bei der Betrachtung des well-beings, um die Erfassung und Beschreibung von Indikatoren des aktuellen Wohlbefindens und gleichermaßen um eine Zielausrichtung im Sinne guter pädagogischer Arbeit, die das Wohlbefinden des Kindes in den Blick nimmt (vgl. Viernickel 2022).

Wohlbefinden (well-being)

In der UN-Kinderrechtskonvention wird im Artikel 27 die Entwicklung des Kindes im Sinne des kindlichen Wohlbefindens thematisiert. Dort heißt es: 

„(1) Die Vertragsstaaten erkennen das Rechts jedes Kindes auf einen seiner körperlichen, geistigen, seelischen, sittlichen und sozialen Entwicklung angemessenen Lebensstandard an. 

(2) Es ist in erster Linie Aufgabe der Eltern oder anderer für das Kind verantwortlicher Personen im Rahmen ihrer Fähigkeiten und finanziellen Möglichkeiten die für die Entwicklung des Kindes notwendigen Lebensbedingungen sicherzustellen.“ (Deutsches Kinderhilfswerk e. V. o. J.)

Kommentar

Beachten Sie:
Zu den „andere[n] für das Kind verantwortliche[n] Personen“ zählen auch Sie als zukünftige Lehrkräfte. Aufgrund Ihrer Amtspflichten, die Sie mit Ihrem öffentlichen Amt als Lehrkraft annehmen, insbesondere Fürsorge- und Obhutspflichten, sind Sie mitverantwortlich für die Entwicklung und das Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen.

Ein Zugang, um das Wohlbefinden der Kinder als Lehrkraft in den Blick zu nehmen, ist die Auseinandersetzung mit Bedürfnissen der Kinder (nach Brazelton und Greenspan 2002), von denen wir

  • das Bedürfnis nach entwicklungsgerechten Erfahrungen exemplarisch behandeln werden.

Das Bedürfnis nach entwicklungsgerechten Erfahrungen (nach Brazelton und Greenspan)

Kinder haben in ihrer Entwicklung zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Bedürfnisse. Dies hängt mit den spezifische Entwicklungsaufgaben, die sie zu bewältigen haben, zusammen. Die Bewältigung der Entwicklungsaufgaben finden i. d. R. in einem Zeitfenster statt: D. h. nicht alle Kinder bewältigen die Aufgaben zu demselben Zeitpunkt.
Wenn diese Entwicklungsaufgaben z. B. von Lehrkräften vorausgesetzt werden, bevor sie bewältigt worden sind oder unter Druck vorangetrieben werden, wird das Kind überfordert. Eine Folge kann sein, dass die entwickelten Grundlagen instabil bleiben oder die Aufgaben nicht vollständig abgeschlossen werden. Dies fällt ggf. erst in der späteren Entwicklung deutlich auf: z. B. in Form von Schwierigkeiten beim Schreiben in der Schule (vgl. Fuhrer 2009, S. 191-217).

Kommentar

Schauen wir uns nun eine klassische Situation aus der Schulpraxis an, um zu verdeutlichen, was die Entwicklungsaufgaben und deren Bewältigung innerhalb eines Zeitfensters für Ihr pädagogisches Handeln als Lehrkraft bedeuten:

Wenn eine Lehrerin eine Klasse mit 20 7-jährigen Kindern vor sich hat, dann unterscheiden sich die Kinder in ihrem Entwicklungsalter um mindestens 3 Jahre. Es gibt Kinder, die mit 7 Jahren ein Entwicklungsalter von 8 bis 9 Jahren haben und bereits lesen können. Andere mit einem Entwicklungsalter von 5 bis 6 Jahren sind noch weit davon entfernt.“ (Largo & Beglinger 2009)

Dies bedeutet für Sie als Lehrkraft, dass Sie in Ihrer Klasse Kindern mit einem Entwicklungsalter von 5 Jahren bis zu einem Entwicklungsalter von 9 Jahren das Lesen beibringen. In dieser interindividuellen Variabilität liegen mindestens zwei Herausforderungen Ihrer Profession, die Sie zu bewältigen lernen werden:

  • 1) Sie werden herausfinden, welches Entwicklungsalter Ihre Schüler:innen in Bezug auf das Lesen lernen haben. Dazu können Sie Beobachtungen und Lernstandserhebungen zur Bestimmung der Lernausgangslage einsetzen.
  • 2) Sie werden den Schüler:innen entwicklungsgerechte Lernerfahrungen ermöglichen. Dazu können Sie Differenzierungen einsetzen.

Kommentar

Bislang haben wir uns im Beispiel auf die Grundschule bezogen. Schauen wir nun, was es für Sie als zukünftige Lehrkräfte in den Sekundarstufen 1 und 2 bedeutet, das kindliche Bedürfnis nach entwicklungsgerechten Erfahrungen zu berücksichtigen:

Was vermuten Sie, wie verändern sich die Entwicklungsalter?
Nähern sie sich an oder entfernen sie sich gar noch weiter voneinander?

„Mit 13 Jahren variiert das Entwicklungsalter um mindestens 6 Jahre zwischen den am weitesten entwickelten Kindern und jenen, die sich am langsamsten entwickeln. Hinzu kommt, dass die Jungen als Gruppe im Mittel um eineinhalb Jahre in ihrer Entwicklung hinter den Mädchen zurückliegen.“ (Largo & Beglinger 2009)

Zunächst wird die Spanne der Entwicklungsalter noch größer bevor sie sich dann in der Oberstufe wieder verringert. In der Sekundarstufe 1 lernen Jugendliche, die sich in der Pubertät befinden und somit die herausforderndsten Entwicklungsaufgaben bewältigen müssen. In dieser Zeit findet ein Umbau des Gehirns statt, so dass u. a. Planung und Handlungskontrolle und somit die rationale Entscheidungsfähigkeit beeinträchtigt werden. Dieses Wissen ist zentral für die Berücksichtigung des Bedürfnisses nach entwicklungsgerechten Erfahrungen von Jugendlichen. Es führt in aktuellen schulpädagogischen wie wissenschaftlichen Diskursen zu der Forderung nach einer Schul- und Unterrichtsentwicklung, die diesem Kenntnisstand Rechnung trägt. In der Lehrkräfteausbildung wird nach den „Standards für die Lehrer-Bildung Bildungswissenschaft“ auf dieses Tätigkeitsfeld vorbereitet:

„Absolventinnen und Absolventen […]

  • kennen und reflektieren den spezifischen Bildungsauftrag […]
  • können schulische Innovationsprozesse mitgestalten und erproben reflektiert neue Konzepte, Anwendungen und Technologien.“ (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland. 2019)

Kommentar

Insofern rufen wir Ihnen an dieser Stelle zunächst noch einmal Ihren niedersächsischen Bildungsauftrag ins Gedächtnis, bevor wir anschließend die geforderte Reflexionskompetenz mit Ihnen einzuüben beginnen.

Wissen Sie noch in welchem Gesetz Sie den Bildungsauftrag finden?

Im niedersächsischen Schulgesetz: §2 NSchG Bildungsauftrag der Schule

Schauen Sie sich nun das folgende 3-minütige Video mit zwei Reflexionsfragen an:
Inwiefern berücksichtigt unser deutsches Schulsystem bereits, dass Schüler:innen in der Pubertät einen Umbau ihres Gehirns durchlaufen?

Haben Sie erste Ideen für Veränderungen, die zur Schulentwicklung beitragen können?

https://www.ardmediathek.de/video/quarks/pubertaet/wdr/Y3JpZDovL3dkci5kZS9CZWl0cmFnLTA1ODg0MzViLTZjM2QtNDg1MC04YzU2LTk4ZWRiZDY3MWI5Mw

Exkurs: Die Jugendschule der Universitätsschule Dresden

In der öffentlichen Gemeinschaftsschule „Universitätsschule Dresden“, die im Rahmen eines Schulversuchs auch als Ausbildungsschule fungiert und wissenschaftlich evaluiert wird, wird im Rahmen der Schul- und Unterrichtsentwicklung aktuell eine sogenannte Jugendschule erprobt (vgl. Langner & Wiechmann 2023):(https://journals.qucosa.de/spe/article/download/9/7/40

Kommentar

Im Sinne des kindlichen Wohlbefinden ist es relevant, sich diese Reflexionsfragen mit Blick auf die Schul- und Unterrichtsentwicklung zu stellen, denn in der Phase der Pubertät sind Ihre Schüler:innen auch besonders sensibel für psychische Schmerzerfahrungen. Schauen Sie sich daher zur Vertiefung Ihres Wissens über den Umbau des Gehirns in der Pubertät ein zweites 7-minütiges Video zur Gehirnentwicklung von Jugendlichen und möglichen gesundheitlichen Langzeitfolgen durch psychische Schmerzerfahrungen, wie Mobbing, an.

https://www.planet-wissen.de/video-was-in-der-pubertaet-im-gehirn-passiert-100.html

Im Vorlesungsthema Gesundheit von Schüler:innen und Lehrkräften werden wir auf den wechselseitigen Zusammenhang von Bildung und Gesundheit genauer eingehen und mit Ihnen erarbeiten, inwiefern er uns Erkenntnisse über den Umgang mit Belastungen und Ressourcen im schulischen Kontext ermöglicht.

Literatur

Brazelton , T. Berry & Greenspan, Stanley I. (2002). Die sieben Grundbedürfnisse von Kindern : was jedes Kind braucht, um gesund aufzuwachsen, gut zu lernen und glücklich zu sein. Weinheim/Basel: Beltz.

Fuhrer, Urs (2009). Lehrbuch Erziehungspsychologie. Bern: Huber.

Langner, Antje & Wiechmann, Katja (2023). Die Jugendschule. Schulpraxis entwickeln. Journal für forschungsbasierte Schulentwicklung. SpE (2023), 2 (1), 1-16.

Largo, Remo H. & Beglinger, Martin (2009). Schülerjahre – Wie Kinder besser lernen. München: Piper.

Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland. 2019. Standards für die Lehrerbildung: Bildungswissenschaften.
abrufbar unter: https://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2004/2004_12_16-Standards-Lehrerbildung-Bildungswissenschaften.pdf

Viernickel, Susanne (2022). Kindliches Wohlbefinden. Theoretische Verortungen, begriffliche Annäherungen, empirische Erfassung. Frühe Bildung 11 (3): 107-114.
abrufbar unter: https://doi.org/10.1026/2191-9186/a000581#

Verzeichnis der Internetquellen

Deutscher Bundestag. Wissenschaftliche Dienste (2020). Zum Begriff des Kindeswohls Sachstand. https://www.bundestag.de/resource/blob/794610/4f00064cd4e3bdbfd7679d593aa02b4c/WD-9-039-20-pdf-data.pdf

Deutsches Kinderhilfswerk e.V. (o. J.) Die UN-Konvention über die Rechte des Kindes. https://www.kinderrechte.de/kinderrechte/un-kinderrechtskonvention-im-wortlaut

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